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Die Sage vom Geldloch bei Birkenau
Im alten efeuumrankten Birkenauer Schloß, das zwischen der Landstraße und dem Schloßteich stand, wohnte vor langer, langer Zeit ein junger Ritter mit Namen Betram. Es war eine prächtige Gestalt von hohem, schlanken Wuchs, mit schmalem Gesicht, blauen Augen, hoher Stirn und blonden Haaren und somit das Urbild eines echten Germanen. Ganz dem Äußeren entsprachen seine seelischen Eigenschaften, denn neben Kühnheit, Mut und Tapferkeit erfüllten sein Herz eine reiche Gemütstiefe und ein hoher Natursinn. Gern unternahm er mit seinen Reitersknechten kühne Ritte ins Gebirge, wobei es ihm eine Lust war, mit seinem stattlichen Hengst Pinto die Weschnitz zu überspringen, einen hohen Rain hinunterzureiten oder ähnliche, besonderen Mut und mannhafte Entschlossenheit erfordernde Reiterstückchen auszuführen. Auch veranstaltete er öfters fröhliche Jagden in seinen Wäldern, und auf dem Turnierplatz war er ein gern gesehener Gast, der vor dem stärksten Gegner nicht zurückwich und oft mit dem Siegespreis geschmückt heimkehrte. Mit seiner Gemahlin der Schwester eines hochangesehenen Ritters an der Bergstraße führte Bertram ein überaus glückliches Familienleben, denn auch sie besaß alle Germanentugenden in hohem Maße. Trotz allen häuslichen Glückes bedrückte beide ein großer Kummer: ihre fast schon sieben Jahre währende Ehe war kinderlos geblieben, und es schien, als sollten sie auch fernerhin ohne Nachkommen bleiben, so sehr sie sich auch nach solchen sehnten und dies um so mehr, weil Bertram der letzte Sproß seines Geschlechtes war, das somit ihm auszusterben drohte.
Da, es war im achten Jahre ihrer Ehe, und der Frühling war wieder im Lande eingezogen, konnte die junge Rittersfrau ihren Gemahl mit der freudigen Botschaft überraschen, daß sie ein Kind erwarte. Unbeschreibliche Freude erfüllte die beiden Ehegatten angesichts des zu erhoffenden Glücks, und mit größter Sehnsucht sahen sie dem Tage der Erfüllung ihres heißen Wunsches entgegen. Als die rauhen Herbststürme das welke Laub von den Bäumen gerissen hatte und alle Blümlein schlafen gegangen waren, während düstere Wolkenfetzen am grauen Himmel dahinjagten, erblickte im Schloß zu Birkenau ein niedliches Mädchen das Licht der Welt, was eine unbeschreibliche Freude auslöste, doch kaum eine Stunde später griff der unerbittliche Schnitter Tod ans Herz der Mutter und nahm sie mit sich in sein Reich. Wie versteinert, als könnte er das traurige Geschehen nicht fassen, stand Bertram an der Bahre seiner über alles geliebten Gattin, bis er in einen Strom von Tränen und lautes Klagen ausbrach. In der Gruft auf dem Friedhof bei dem alten Kirchlein wurde die sterbliche Hülle der hohen Frau beigesetzt, und nun folgte eine traurige Zeit für den Zurückgebliebenen, in der der Anblick des zarten Kindleins, das den Namen Ingeborg erhalten hatte, den einzigen Lichtblick bildete. Stumm saß er oft stundenlang am Fenster und schaute mit tränenden Blicken hinüber zum kleinen Kirchlein, in dessen Schatten seine treue Gattin ruhte. Kein lustiger Ritt, keine fröhliche Jagd wurde hinfort unternommen, und auch den Ritterkämpfen blieb er fern, ebenso stellte er allen Verkehr mit den ihm befreundeten Ritterfamilien ein. Er war ein Einsamer inmitten des ihn umgebenden pulsierenden Lebens.
So verging der Winter, und auch der Frühling vermochte mit all seiner Pracht die tiefe Trauer im alten, einst so traulichen Schloß nicht zu wenden. Als es Sommer geworden war und das Korn der Ernte entgegen reifte, da drang in die Einsamkeit des efeuumrankten Gebäudes der Notschrei des deutschen Reiches, denn die Türken waren mit einem übermächtigen Heere auf dem Wege nach Wien, um Deutschland zu zerschmettern. Da erwachte in Bertram der ihm innewohnende Tatendrang und die Not des Vaterlandes höher achtend als die eigene Not, faßte er den Entschluß, mit seinen Mannen dem Kaiser zu Hilfe zu eilen, obwohl ihm der Abschied von seinem geliebten Kinde und der Ruhestätte seiner unvergeßlichen Gemahlin ungemein schhwer fiel. Vor der Abreise traf er alle Vorkehrungen über die Versorgung seiner Beamten und Dienerschaft, deren Unterhalt von den Einkünften des Lehens bestritten werden sollte. Sein teures Kind blieb der Pflege eines kinderlosen Beamtenehepaares anvertraut, daß es seither so liebevoll betreute und dessen große Anhänglichkeit an ihren Herrn auch weiterhin die beste Fürsorge gewährleistete. Er übergab ihnen eine große Geldsumme als Belohnung für ihre Mühe und eine ebensolche für den Unterhalt Ingeborgs. Nun war nur noch eine Angelegenheit zu regeln, die ihm allerdings einiges Kopfzerbrechen verursachte. In seinem Tresor lag eine große Menge an Gold und Edelsteinen, die er teils von seinem Vater, teils von einer ausgestorbenen Seitenlinie geerbt hatte und einen ungeheuren Wert darstellte. Da Bertram mit der Möglichkeit rechnen mußte, aus dem Kriege nicht mehr zurückzukehren, wodurch das Lehen in fremde Hände übergehen würde, sollte dieser Schatz auf alle Fälle für sein Kind sichergestellt werden. Nach längerer Überlegung entschloß er sich, die Kostbarkeiten im Walde zu vergraben, weil er sie vor Dieben, ungetreuen Beamten oder etwa in Westdeutschland einbrechenden Feinden was bei der damaligen Einstellung der Franzosen durchaus im Bereich der Möglichkeit gehörte ‑ am besten in Sicherheit wähnte. In aller Stille packten Bertrams Reiter die Wertsachen in 12 Kasetten und fuhren sie unter dem Schutz der Dunkelheit die Eichhöhe hinauf an eine Bodensenke zwischen dem Wachenberg und dem Haubenböhl. Vier Mann wurden als Wächter aufgestellt, währen die übrigen sechs, zehn Schritte unterhalb einer uralten, mächtigen Eiche eine Grube aushoben, die die Kisten aufnahm. Der inzwischen aufgegangene Mond leuchtete beim Zuwerfen und ermöglichte es ihnen, die Stelle, die an sich abseits des Weges lag und nur ganz selten von jemand aufgesucht wurde, so geschickt mit Rasen abzudecken und dürrem Laub zu überstreuen, daß damit jegliche Spur des dortigen Geschehens verwischt war. Nachdem so alle Vorbereitungen getroffen waren, nahte die Stunde der Abreise. Das ganze Dorf hatte sich im Schloßhofe versammelt, denn jeder wollte dem geliebten Herrn vor seinem Wegzug nochmals die Hände drücken und ihm glückliche Heimkehr wünschen. Schwer fiel Bertram das Abschiednehmen von der Heimat, am schwersten jedoch die Trennung von seinem, die Gesichtszüge der Mutter untrüglich wiederspiegelnden Kinde. Immer wieder umschloß er es mit seinen Händen und drückte es an seine Brust, als könne er es nicht verlassen, doch noch ein letzter Kuß auf seine Wangen, ein letzter Blick nach dem Friedhof, und fort ging es zum Tore hianus in Richtung nach Osten.
Da Birkenau dem fränkischen Ritterkreis angehörte, ging der Ritt zunächst nach Würzburg. Auf dem weiteren Wege nach Wien schloß sich ihnen der schwäbische Kreis an, wodurch ihre Zahl auf 8400 Mann anwuchs, denen sich an der Donau dieBayern mit 11000 Mann unter dem jungen Max Emanuel zugesellten. Als sie Wien erreichten, war dieses von den Türken längst umschlossen, und befand sich in höchster Bedrängnis. In aller Eile formierte sich das deutsche Heer, das neben den genannten Truppen noch aus 11400 Sachsen und 27100 kaiserlichen Mannschaften bestanden, unter der Führung des Herzogs Karl von Lothringen, eines der größten Feldherrn seiner Zeit, zum Angriff, der jedoch erst gewagt werden konnte als die Unterstützung durch den Polenkönig Johann Sobiesky mit 12000 Reitern und 3000 Mann Fußvolk eingetroffen war. Nun entbrannte unter den Mauern der Stadt ein mörderischer Kampf, und Ritter Bertram befand sich mit seinen Getreuen stets da, wo die Schlachts am heißesten tobte. Eine große Zahl Türken erlag ihren Hieben, und immer stürmten sie weiter vor in die Reihen der Feind. Plötzlich sahen sie sich von einer gewaltigen Übermacht umzingelt, und obgleich sie alle Kräfte anspannten, sich durchzuschlagen, und schon zahlreiche Gegner in den Sand gestreckt hatten, erlahmten sie immer mehr und fielen endlich den Krummsäbeln zum Opfer. So besiegelten alle elf ihre Tapferkeit und ihren Einsatz für Kaiser und Reich mit dem Tode, ohne den glänzenden Sieg erlebt zu haben.
Wieder war es Herbst geworden, die Bäume hatten ihr Laub verloren, und die verödeten Flure harrten der schützenden, weißen Decke, da überbrachte ein Bote die Nachricht von dem Heldentode Bertrams und seiner zehn Getreuen ins Schloß zu Birkenau. Mit Blitzesschnelle verbreitete sich die Kunde durch das ganze Dorf, und allgemein war die Bestürzung und groß war die Trauer um den allerseits verehrten Herrn, am größten jedoch im Schlosse selbst, denn der Tod des Lehensträgers zog hier einschneidende Veränderungen nach sich. Da Bertram keine männlichen Nachkommen hinterlassen hatte, ging das Lehen nach Ablauf des Jahres in fremde Hände über. Wohl übernahm die neue Herrschaft einen Teil der Beamten und Dienerschaft, die Mehrzahl jedoch wurde entlassen und mußte sich nach anderen Diensten umsehen. Der Beamte, in dessen Pflege sich Ingeborg befand, hätte bleiben können,doch zog es dieser vor, ein nettes Häuschen mit anstoßendem Garten zu erwerben, um sich ganz der Pflege des ihm anvertrauten Kindes und dem Andenken an seinen einstigen Herrn widmen zu können. Aus dem Nachlaß Bertrams fiel Ingeborg als einzigem Erben ein ansehnliches Vermögen zu, das der Pflegevater in getreuliche Verwaltung nahm, ohne jedoch von dem vergrabenen, unermeßlich reichem Schatze irgendwelche Kenntnis zu besitzen.
Ein Jahr verging nach dem anderen, das Ritterkind hatte längst gehen und sprechen gelernt und entwickelte sich prächtig. Zu den Beamten und dessen Frau sagte es Vater und Mutter, denn es besaß keine Ahnung von seiner hohen Herkunft, und auch die Dorfbewohner wagten es nicht, ihm davon Mitteilung zu machen, aus Furcht, das innige Verhältnis des Kindes zu seinen Pflegeltern zu stören. Unendlich wohl fühlte sich Ingeborg in dem netten, sonnigen Häuschen und spielte am liebsten mit den Nachbarskindern in dem schönen wohlgepflegten Garten, wo die Blumen so herrlich blühten und dufteten. Von Jahr zu Jahr nahm sie Schönheit und Fröhlichkeit zu, daß sie jedermann, der ihr in die holden blauen Augen sah, liebgewinnen mußte. Mit den Dorfkindern hielt sie gute Freundschaft und nahm gern an deren Spielen teil, wobei ihr Antlitz vor Glück und Freude strahlte.
Eines Morgens, als Ingeborg an Tische saß und ihr Frühstück verzehrte flog das Täubchen zum offenen Fenster hinaus die Gasse hinunter. Voller Angst seinen treuen Freund zu verlieren, rief Ingeborg den Pflegevater, und beide eilten dem Flüchtling nach in der Hoffnung, diesen wieder einzufangen können. Am Ende der Straße, da wo die Buckelskalmm beginnt, fanden sie den kleine Ausreißer auf einem Strauche sitzend und unter mit den Äuglein zwinkern. Doch als sie ihn herunternehmen wollten, flog er auf und setzte sich ein Stück weiter abermals nieder. So geschah es nochmals, daß die beiden Verfolger schon die ganze Eichhöhe hinaufgeeilt waren, ohne des Täubchens habhaft geworden zu sein, doch folgten sie ihm unverdrossen nach. Ingeborg glaubte schon, ohne ihren Liebling heimkehren zu müssen, und brach ob dieses Gedankens in bittere Tränen aus. Da ließ sich das Täubchen in der Senke zwischen dem Wachenberg und dem Haubenböhl in der Nähe einer mächtigen Eiche nieder, blieb aber hier nicht ruhig sitzen, wie es dies seither getan, sondern hackte mit seinem Schnabel in den Boden und scharrte mit seinen Füßen so heftig, daß das Laub nach allen Seiten davonstieb. Dann flog es auf, setzte sich seiner Freundin auf die Schulter und ließ sich, diese fortwährend liebkosend, willig nach Hause tragen. Derselbe Vorgang wiederholte sich in den nächsten Tagen in der gleichen Weise, und schon hatte das Täubchen dort im Walde eine ziemlich große Vertiefung zustande gebracht. Das merkwürdige Benehmen des Tierchens, das dem Pflegevater bald aufgefallen war, veranlaßte diesen, über dessen Bedeutung nachzudenken und dabei kam die Erinnerung, daß sein ehemaliger Herr, der Ritter Bertram, als außergewöhnlich reich gegolten habe und das hinterlassene Erbteil der Tochter keineswegs einem solchen Vermögen entsprach. Da stieg in ihm die Vermutung auf, ob nicht vielleicht sein Herr der Sicherheit halber einen Teil seiner Kleiodien hier vergraben haben möchte, wie dies öfters in Kriegszeiten üblich war.
Unter dem Vorwand, wilde Rosenstöcke im Walde zu suchen, nahm er Hacke und Spaten und grub an der Stelle, wo das Täubchen gewühlt hatte, eifrigst auf. Als er über einen Meter tief war, stieß er auf einen harten Gegenstand, und nach wenigen Minuten lagen einige der vergrabenen Kasetten vor ihm. Indem er dadurch seine Vermutung bestätigt glaubte, schloß er die Grube wieder auf das sorgfältigste, hob rasch einige Rosenstämmchen mit den Wurzeln aus und eilte nach Hause. Am folgenden Morgen in aller Frühe nahm er ein Fuhrwerk und fuhr mit der Begründung, eine das Vermögen der Pflegetochter betreffende Reise unternehmen zu müssen, nach Mainz zu dem Kurfürsten als dem Lehensherrn der Cent Birkenau, um diesen von dem Funde in Kenntnis zu setzen, der Kurfürst ging auf den Vorschlag, sogleich einige kurfürstliche Beamten als Zeugen, bei der Ausgrabung der Kiste mitzusenden, bereitwilligst ein, und konnte so die Heimreise unverzüglich angetreten werden. In Birkenau angekommen begab sich der Pflegevater mit seinen Begleitern und einigen mit Spaten ausgerüsteten Männern sogleich an die betreffende Waldstelle, und es währte nicht lange, da waren sämtliche 12 Kasetten gehoben. Der Versuch, sie zu öffnen, gelang nach einigem Bemühen, und als man die Deckel zurückschlug, lag unter jedem ein Pergament mit dem Siegel des Ritters Bertram und einer mit eigenhändiger Unterschrift versehenen Inschrift, die besagte, daß der Inhalt der Kiste rechtmäßiges Eigentum seines einzigen, bei dem Beamten N. N. in Pflege befindlichen Töchterchens sei, falls er aus dem Türkenkriege nicht mehr zurückkehren sollte. Damit waren alle Zweifel über die Urheberschaft und die Zugehörigkeit des gefundenen Schatzes behoben.
Wie ein Lauffeuer verbreitete sich die Kunde von der Auffindung des unermeßlichen Reichtums im ganzen Dorfe, und noch bevor der Pflegevater mit den kurfürstlichen Beamten zurückgekehrt war, hatte auch dessen Frau, die sich das geheimnisvolle Benehmen ihres Mannes in den letzten Tagen nicht erklären konnte, von dem Ereignis schon Kenntnis erhalten. Der plötzlich mit so unendlich großen Reichtum beglückten Ingeborg machte man jedoch vorderhand noch keine Mitteilung, da man ihr vorher ihre wahre Abstammung bekannt machen mußte. Dies geschah in den nächsten Tagen, aber wider Erwartung machte diese Kunde keine besonderen Eindruck auf sie, nur das eine wollte ihr nicht aus dem Sinn, daß die von ihr seither als Vater und Mutter Bezeichneten nicht ihre wirklichen Eltern sein sollten.
Der gehobene Schatz wurde in den nächsten Tagen unter Bewachung nach Mainz gebracht und in lehensherrliche Verwahrung genommen. Nach einiger Zeit erschien bei den Pflegeeltern ein kurfürstlicher Beamter, der ihnen den Wunsch seines Herrn unterbreitete, wonach das Rittertöchterchen eine standesgemäße Erziehung auf einem benachbarten Schloß erhalten solle. Da sich Ingeborg nicht von den beiden seither als Eltern Betrachteten trennen wollte, nahm der als Erzieher ausersehene Ritter den Pflegevater in seine Dienste und so siedelte die Familie in das neue Heim über, wo sie die nächsten Jahre in glücklicher Gemeinschaft verlebte. Auch als sich die inzwischen zur blühenden Jungfrau herangewachsene Ingeborg mit einem Fürstensohne vermählt hatte, mußten die beiden mit ihr ziehen, und die junge Fürstin vergalt ihnen alle erwiesene Liebe durch ihre unverminderte Zuneigung und Verehrung.
Ingbeorg und ihre einstigen Pflegeeltern aber konnten die in Birkenau verbrachte Zeit niemals vergessen. Oft kehrten sie in das freundliche und so herrlich gelegene Dörfchen zurück und nahmen in dem netten Häuschen Wohnung, in dem sie so viele glückliche Tage und Jahre verlebt hatten. Mehrmals auch wanderten sie die Eichhöhe hinauf nach der Stelle, die für Ingeborg die Wiege ihres späteren Glückes bedeutete. Die Senke aber führte seit der Auffindung des von Ritter Bertram in ihr vergrabenen Schatzes den amen "Das Geldloch", den sie heute noch trägt und auch in alle Zukunft tragen wird.
Autor: Rektor Johannes Pfeifer
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Von Riesen, Hexen und Zauberern
Welche Gruselgeschichten aus Birkenaus Ortsteilen sich die Vorfahren – nicht nur am 31. Oktober – erzählten
Grusel- und Gespenstergeschichten sind seit jeher beliebt – vor allem rund um Halloween, das am 31. Oktober begangen wird. Auch unsere Vorfahren hatten Spaß am Gruseln, am Erzählen von Schauergeschichten, in denen Akteure wie Riesen, Hexen und Zauberer ihr Unwesen trieben.
Es gab noch kein elektrisches Licht, man saß in der einzig beheizten Stube des Hauses beim dürftigen Geflacker eines Kienspanes oder einer Ölfunzel, und man erzählte sich von längst vergangenen Tagen und schauderhaften Ereignissen. Solche Begebenheiten haben sich kaum erhalten und man muss tief graben, um auf sie zu stoßen. Als Quellen dienten unter anderem die Heimatbeilage „Der Rodensteiner“ aus den 1920er- bis 1930er-Jahren.
Der Zauberer aus Hornbach
Auf einem Buckel nahe Hornbach stand jenseits der Bebauung ein Haus. Dort wohnte der Kaisers Baschtel. Vom ihm erzählte man sicher allerhand sonderbare Dinge, unter anderem er besäße das 9. Buch Mose und könnte zaubern. Einmal war er gerade auf dem Weg ins Dorf und eine Katze lief ihm über den Weg. Das bedeutete Unglück. Als er heimkam, zauberte er wieder, ihm war allerdings der Zauberspruch entfallen, den er zuletzt brauchte. Diesen musste er rückwärts sagen, doch der Spruch war wie ausgelöscht.
Da wurde es in der Stube auf einmal ganz dunkel, alles war still. Da hörte er aus dem Wald den lang gezogenen Ruf des Uhus, der ganz fürchterlich und grauenhaft anzuhören war. Dann plötzlich ein Höllenlärm – es kamen drei Hexen und richteten den armen Kerl schlimm zu. Am Hals, im Gesicht und überall zerkratzten sie ihn, nur weil er den Zauberspruch nicht aufsagen konnte. Am andern Tag fand man ihn erbärmlich zugerichtet in seinem Bett liegen. Danach hat er beim Zaubern besser aufgepasst. Wo das Haus des Kaisers Baschtel um 1820 stand, findet man heute noch Spuren davon. Er findet auch flüchtige Erwähnung in Schriftstücken.
Die Sage vom Schützenkreuz
Auf einer Anhöhe vor Buchklingen steht seit Jahrhunderten das Schützenkreuz. An dieses Kreuz heftet sich folgende Sage:
In den Geisternächten, wenn es draußen nicht geheuer ist, und sich kein Wanderer zu später Stunde noch unterwegs finden sollte, kommen Schlag zwölf die Hexen der ganzen Umgebung mit großem Lärm angesaust. Einige bedienen sich alter Besen als Reittiere, andere sitzen auf laut schreienden Säuen, die sie an den Ohren und Schwänzchen fassen, wieder andere auf Hunden, Katzen, Eulen und allem möglichen, greulichen Getier. Wenn sie alle beisammen sind, tanzen sie einen hässlichen Tanz rund um das Kreuz herum und berichten einander singend von ihren Taten. Manchmal trinken sie auch aus einem irdenen Topf eine dampfende braune Brühe, und mit dem Schlag eins sausen sie alle wieder heulend, fauchend, blökend und schreiend davon.
Niemand wagt es, um diese Zeit am Schützenkreuz vorüberzugehen. Einmal hatten ein paar junge Burschen beschlossen, einer alten Frau, die als Hexe galt, aufzulauern, um ihr Geheimnis zu erfahren. Sie versteckten sich also in einer Nacht unter der Stiege und verhielten sich völlig ruhig. Anfangs schien es, als ob die Alte schlafen würde. Aber als es Zwölf schlug, kam sie schlurfend die Treppen herunter und zündete in der Küche eine Kerze an. Dann ging sie in eine Ecke und holte eine Haselgerte hervor. Auf diese tröpfelte sie etwas Wachs von einer brennenden Kerze und murmelte dazu halblaut: „Schmier’ den Stecken mit Hexenfett, flieg’ über Hecken und Stauden weg.“ Kaum hatte sie das gesagt, so fuhr sie mit Sausen und Fauchen zum Schornstein hinaus, sodass die drei Burschen zu Tode erschraken und zweien die Lust zu weiteren Nachforschungen verging. Auch der Dritte bekam es mit der Angst zu tun. Aber er überwand sich, und obwohl seine Kameraden ihm abrieten, ergriff er einen Stecken, um auch, wie die Hexe, durch einen Zauberspruch auf ihm von dannen zu reiten. Als er aber den Spruch hersagte, versprach er sich in der Eile: „Schmier’ den Stecken mit Hexenfett, flieg’ wider Hecken und Stauden.“
Sofort fühlte er sich wie von unsichtbarer Hand emporgehoben, sauste wie der Wind durch den Schornstein und draußen weiter durch das ganze Dorf, über Stock und Stein, dass ihm die Haselgerten wie Peitschen ins Gesicht schlugen und die Dornen ihm die Hand ritzten, dass das Blut floss. Sein Herz klopfte zum Zerspringen und er hätte am liebsten geschrien, aber seine Kehle war wie zugeschnürt. Plötzlich wurde er mit einem Ruck zur Erde geworfen. Er stand auf und rieb sich alle schmerzenden Körperstellen. Dann sah er sich um. Da bemerkte er, dass er sich in einem Kreis singender und tanzender Hexen befand. Neben ihm aber ragte das hölzerne Kreuz, das er so gut kannte. Er verging fast vor Angst, aber die Hexen schienen sich gar nicht zu kümmern. Sie tanzten ihren wilden Reigen weiter und sangen dazu mit Stimmen, die klangen wie das Gekrächz der Raben oder das Kreischen einer rostigen Türangel.
Endlich hielten sie inne und jene alte Frau, die er belauscht hatte, kam schweigend auf ihn zu, sah im starr in die Augen und reichte ihm in einem irdenen Topf eine braune Flüssigkeit. Er konnte dem zwingenden Blick nicht widerstehen und trank, wenn auch widerwillig. Sogleich fiel er in einen tiefen Schlaf. Am anderen Morgen, als ein Bauer aufs Feld fuhr, fand er ihn neben dem hölzernen Kreuz halberstarrt liegen. Er rüttelte ihn wach. Aber der Bursche blickte ganz verstört um sich und konnte nichts Zusammenhängendes erzählen. Erst viel später vertraute er einem Freund sein Erlebnis an.
Die Sage vom Riesenstein
Auf dem sanften Höhenrücken, der das Löhrbacher Tal nach Westen hin abschließt, liegt nach Ober-Abtsteinach zu in einem schönen Walde ein Stein, der durch seine beträchtliche Größe auffällt. An ihn, dem „Riesenstein“, hat sich folgende Sage geheftet:
Vor Zeiten, als Riesen noch überall im Land hausten und die Menschen in Angst und Schrecken versetzten, wohnte auch auf dem Götzenstein, unweit von Löhrbach, ein solcher „großmächtiger“ Riese, der aber nicht, wie viele andere, bösartig, sondern ein gutmütiger, harmloser Geselle war, der ohne Grund niemandem etwas zuleide tat. Er forderte zwar, was er zum Lebensunterhalt brauchte, ließ aber im Übrigen die Leute in Ruhe. Wenn der Riese ausging, nahm er nicht den gewöhnlichen Weg, sondern ging in wahren „Riesenschritten“ quer übers Feld, sprang über ganze Täler und stand in einem hohen Wald nicht anders als ein Kind in einer Wiese. So machte er einmal auf einem Spaziergang nur ein paar Schritte, um nach Ladenburg zu kommen. Mit einem Satz sprang er vom Götzenstein über das ganze Tal bis dort, wo heute der Riesenstein liegt, mit einem zweiten über das Flockenbacher Tal und mit einem letzten, mächtigen Satz sogar bis zur Ladenburger Neckarbrücke. Als er dies einem anderen Riesen erzählte, wollte selbst der es nicht glauben und forderte ihn auf, noch einmal vor seinen Augen sein Können zu beweisen. Das ärgerte unseren Riesen sehr. Aber um den anderen zu zeigen, was er könne, ergriff er einen der zahlreichen Steinblöcke, die da herumlagen, schleuderte ihn hoch durch die Luft, dass er übers Tal wegflog und jenseits mitten in dem Wald niederfiel, nahm einen Anlauf und sprang vor den Augen seines erstaunten Zweiflers dem Stein nach. Der liegt noch heute ganz genau an der Stelle, wo er niederfiel.
Autor: Gemeindearchivar Günter Körner
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Sagen, Abhandlungen, Erzählungen aus den „Rodensteiner“ für Löhrbach und Buchklingen
Quelle: Stadtarchiv Weinheim
Das Rätsel um den Götzenstein
Ein sonderbares Steingebilde mit besonderer Bedeutung/ Heidnische Kultstätte oder astronomischer Punkt ?
Wer an einem sonnigen Sonntag den Götzenstein bei Löhrbach als Wanderziel wählt, wird nicht nur in den Genuss eines angenehmen Landschaftsbildes entschädigt, das herrliche Rund- und Einblicke in den Odenwald gewährt, sondern wird zugleich mit einem der geheimnisvollsten Punkte des ganzen vorderen Odenwaldes bekannt, der in uralte Zeiten zurückweist. Wenn er auf der 527 m über dem Meeresspiegel gelegenen Höhe anlangt, nimmt er oben ein sonderbares Steingebilde wahr, eine Felsgruppe, der man ohne weiteres eine besondere Bedeutung zusprechen möchte. Solche Felsengebilde gibt es zwar im Odenwald viele, aber die Tatsache, dass von Menschenhand geschaffenen Fläche von 90 : 60 Schritten liegen, lässt vermuten, dass sie früher einmal eine bemerkenswerte Aufgabe erfüllt haben. Aber nicht nur die Abplattung der Bergspitze scheint Menschenwerk zu sein, sondern auch zwei Terrassen am Nordabhang dürften, wie der verewigte Rektor Pfeifer von Birkenau vermutet hat, auf menschliche Arbeit zurückzuführen sein.
Dass diese riesigen Felsen selbst nicht von Menschenhand an diesen Ort geschafft worden sind, ist bestimmt anzunehmen, sie haben sich vielmehr als letzte Reste des ungeheuren Verwitterungsprozesses erhalten, der seit Anbeginn der Zeiten selbst dem härtesten Granit zu Leibe geht. Wenn man die Felsengruppe unvoreingenommen betrachtet, gewinnt man den Eindruck, dass einer der Felsen einmal über den anderen gelegen sein oder gehangen haben könnte und abgerutscht sei, so dass zwischen zwei darunter gelegenen Steinen ein kleiner Zwischenraum entstand.
Leider wissen wir bis heute noch nicht, welche Bedeutung dem Götzenstein in früheren Zeiten zugekommen ist. War er einmal eine heidnische Kultstätte, an der Göttern geopfert worden ist ? Der Name Götzenstein könnte darauf schließen lassen. Oder war er etwa ein astronomischer Punkt oder eine Sternwarte, auf dem unsere Vorfahren den Sonnenaufgang und Sonnenuntergang beobachteten und berechnet haben, ebenso wie den Lauf der Sterne?
Tatsächlich führt die vom Götzenstein gezogene Nordwest-Linie über eine kleine Steingruppe vor dem Bocksberg bei Hemsbach. Oder war die Höhe des Götzensteins eine Versammlung- oder Gerichtsstätte unserer Vorfahren ? Wir wissen es noch nicht.
Auf jeden Fall hat diese auffallende Höhe schon früh als Grenze gedient, wie sie ja noch heute noch an der Grenze von Löhrbach, Schnorrenbach und Vöckelsbach liegt und früher die Odenwälder Centen voneinander trennte. Um nun etwas Näheres über die Geschichte des Götzenstein zu erfahren, muss man die ältesten Urkunden untersuchen, die von seiner Umgebung handeln. Hier ist in erster Linie die Beschreibung der Mark heppenheim aus den Jahren 773 und 795 zu nennen. Die hier angeführte Grenze dieser Mark umfasst einen großen Teil des Odenwaldes, gelangt schließlich an den Neckar, führt den Ulfenbach aufwärts zum Fränkel und zur Steinachquelle, vor hier zur Pedens Rocha, d. h. zum Hangenden Felsen und dann zur Höhe von Gunnesbach. Es ist schon mehrmals angenommen worden, dass dieser Hangende Fels identisch sei mit der Felsengruppe des Götzensteins. Im zqweiten teil dieser Urkunde, in der die Grenzen vermutlich in späterer Zeit spezifiziert werden, führt die Grenze vom Ulfenbach bis zum Fränkel, und von da zum Felsen Kasenova und zum Felsen zu Irselanden. Leider konnten diese Namen noch nicht gedeutet werden, aber vielleicht ist mit dem hangenden Felsen wiederum der Hangende Fels oder der Götzenstein gemeint.
Eine weitere Urkunde des Lorscher Kodex aus dem Jahre 1012 durch die Kaiser Heinrich II. die Grenzen des Hoheitsgebiets von Lorsch und Worms im Odenwald festgelegt werden, hat die Orte Flockenbach und Steinach genannt, von wo die Grenze aufwärts zum Enchelen Wisilstein gemeint ist und nach Siedelsbronn geführt habe. Es erscheint möglich, dass damit der „Hängende Wisilstein“ gemeint ist. Ob sich darunter wiederum der Götzenstein verbirgt, ist bis jetzt noch nicht geklärt.
Hoffen wir, dass vielleicht ein Zufallsfund die Geschichte des rätselvollen und deshlab so interessanten Götzensteins aufklärt.
Autor: J. Fresin
Rodensteiner 28.05.1974 Prof. J. Fresin